Rico, wie entwickle ich mich seelisch am schnellsten?
Am schnellsten entwickelt man sich dann, wenn man das eigene Leben lebt, wenn man im Leben nicht ausweicht oder nur dort, wo man wirklich überfordert ist. Und wenn man versucht, Wege zu finden, die Aufgaben des Lebens zu meistern. Mit Aufgaben meine ich nicht die von aussengestellten Aufgaben. Sondern die Aufgabe des Lebens ist ja eigentlich zu leben, aus dem Leben etwas Lebenswertes zu machen. Und das, was einem begegnet, in etwas zu verwandeln, was einem glücklich macht. Dann findet die seelische Entwicklung sozusagen von alleine statt.
Jetzt hast du gesagt, man soll nicht ausweichen, sondern sich dem Leben stellen. Kannst du dazu ein Beispiel geben?
Ja. Nicht auszuweichen, hat nichts damit zu tun, dass man sich Jahre oder Jahrzehnte lang mit demselben Problem beschäftigt. Denn auch das kann ein Ausweichen sein. Sondern es geht darum, dass man versucht, Neues für sich herauszufinden:
Was muss ich machen, dass ich für mich selbst im Leben weiterkomme, nicht stehen bleibe, mich nicht im Kreis drehe. Mich in dem Sinne entwickeln kann. Und es kann sein, dass man sich dadurch dann den Problemen stellt. Es kann aber auch sein, dass man Problemen bewusst ausweicht, weil man merkt, dass das Lösen dieses Problems mit Entwicklung nichts zu tun hat und eher blockiert. Ich mache ein Beispiel: Mir ist oft aufgefallen in der Praxis, dass Menschen sich jahrzehntelang mit denselben Problemen auseinandersetzten.
Das ist für mich eher ein Ausweichen, ein Ausweichen aus der Überforderung heraus, selbstverständlich. Aber es ist ein Ausweichen, weil man gewisse Realitäten nicht akzeptieren will. Weil man vielleicht denkt: «Ich muss diesen Konflikt lösen. Ich kann diesen Konflikt nicht lösen, in dem, dass ich ausweiche. Ich muss stehen bleiben.» Und man sich selbst so beginnt in ein Verhalten hineinzudrücken, was dann die eigene seelische Entwicklung blockiert und unterdrückt.
Heisst das, dass man gewisse Sachen loslassen oder einfach mal stehen lassen soll?
Ja zum Beispiel dann, wenn man merkt, dass man nicht weiterkommt oder man sich im Kreis dreht. Wenn man eigentlich keine Perspektive sieht. Man kann sagen: Normale Entwicklung heisst eigentlich Weiterentwicklung.
Es heisst Wachstum, Veränderung! Und wenn die Weiterentwicklung, das Wachstum, die Veränderung in einem Konflikt nicht mehr möglich ist, dann ist der Konflikt eigentlich nur noch dazu da, weil man die Realität nicht akzeptieren will, dass etwas nicht mehr funktioniert oder dass man ein Problem nicht lösen kann. Und da fallen mir verschiedene Menschen ein, die ich in der Praxis begleitet habe, die zum Beispiel Familiengeschichten versucht haben zu lösen, aufzulösen. Und eigentlich fast ihr ganzes Leben dafür aufgewendet haben diese Familiengeschichten zu lösen.
Sie haben versucht, etwas, das nicht lösbar gewesen ist, zu lösen. Und haben dann eigentlich ihr Leben damit verbracht, etwas Unlösbares zu lösen. Und natürlich hat es immer wieder Fortschritte gegeben. Aber unter dem Strich ist es immer dasselbe geblieben. Und jetzt geht es nicht darum, dass man sich Konflikten nicht stellt, dass man ausweicht oder davonläuft. Aber es geht darum zu erkennen, wann stelle ich mich einer Situation und höre mich dabei auf zu entwickeln, weil ich mich im Kreis drehe? Und wann muss ich mich einer Situation stellen, damit ich mich weiter entwickeln kann? Und somit könnte man sagen: Konflikte müssen eigentlich immer konstruktiv gelöst werden können oder mindestens eine konstruktive Aussicht haben, damit sie zu einer Entwicklung führen können.
Wieso fällt uns das immer wieder so schwer, genau diesen Punkt zu erkennen, wann es eben keinen Sinn mehr macht, an was auch immer, festzuhalten?
Das hat mit ganz vielen Unsicherheiten zu tun, Überforderungen zu tun, Ängsten zu tun. Man hat immer das Gefühl, Entwicklung ist etwas Schönes. Das kann es sein. Das ist es in sehr vielen Fällen.
Aber Entwicklung ist oft auch etwas, was Angst machen kann. Man begibt sich durch die Entwicklung auch in neue Bereiche, neue Verhaltensmuster. Oder man durchbricht alte Verhaltensmuster. Ich sage mal, man hat ein weisses Blatt Papier vor sich, wo nichts draufsteht.
Einerseits ist das gut, weil man alle Möglichkeiten hat. Andererseits ist es aber auch nicht gut, weil man keine Leitplanken, keine Orientierung hat und diese neu finden muss. Und je nachdem wie man eine Veränderung, eine Entwicklung erlebt, kann sie freudig sein. Sie kann aber auch bedrohlich sein. Und darum neigt man manchmal dazu in einem Konflikt zu bleiben, weil man Angst hat vor den nächsten Schritten oder auch vor dem Akzeptieren der Realität und sagt: «Diese Beziehung zu diesem Menschen ist gescheitert, weil ich genügend getan habe. Ich habe genügend versucht, genügend gesprochen, mich genügend gestellt. Ich glaube, es ist genug, wenn ich mich weiter entwickeln will.»
Bleiben wir kurz beim Beispiel Beziehung. Kann es sein, dass man sich an die Hoffnung klammert, dass das Gegenüber dann schon noch kommt?
Ja, aber das ist dann auf eine gewisse Art etwas, was der eigenen Entwicklung entgegensteht. Das ist dann die Hoffnung, die die Realität beginnt zu verzerren. Die bewirkt, dass man sich nicht entwickelt, sondern dass man eine Realität nicht akzeptieren will. Das Schwierigste bei der seelischen Entwicklung ist sicher verschiedene Realitäten zu akzeptieren: Was geht im Leben? Was geht nicht? Was geht mit Anstrengung? Was geht aber auch mit Anstrengung nicht? Und wenn man den Mut hat, diese Realitäten zu akzeptieren, dann beginnt die seelische Entwicklung automatisch zu wachsen.
Was oft unterschätzt wird, dass man vor seelischen Entwicklungen auch Angst haben kann. Seelische Entwicklungen können Schmerz auslösen, weil man weiter geht im Leben. Weil man vielleicht, wenn man weitergeht, auch etwas zurücklässt. Und das löst Schmerzen aus.
Was ich aber aus meiner Praxis heraus sagen kann, die Schmerzen, die ausgelöst werden durch das, dass man nicht handelt, sind aus meiner Erfahrung viel grösser. Und darum könnte man auch sagen: Sich seelisch zu entwickeln, schmerzt weniger, als wenn man sich nicht entwickelt.
Und wenn du Menschen in der Praxis begleitest in solchen Situationen. Wie kannst du sie unterstützen?
Also da geht es um viele verschiedene Bereiche. Grundsätzlich hat das Ganze sehr, sehr viel mit emotionaler Stärke und Stabilität zu tun. Man kann auch sagen: Für Veränderungen, für Entwicklungen muss man innerlich genügend stark sein, dass man die entsprechenden Schritte auch machen kann.
Und darum ist mein Ansatz auch Menschen zu stärken in ihrer Kraft, damit sie den Rückhalt haben, das zu machen, was ihnen eigentlich entspricht. Man könnte auch übergeordnet sagen: Menschen haben dann Angst vor Veränderung, wenn sie innerlich für diese Veränderung zu wenig stark oder stabil sind. Und dann ist es eigentlich auch klar, dass man ausweicht, sich im Kreis dreht, weil man die Kraft nicht hat auszubrechen.
Das ist eigentlich wie, wenn man in einem Fluss badet, der eine starke Strömung hat und man kann nicht so gut schwimmen, um aus dieser Strömung herauszukommen. Und dann bleibt man in der Strömung drin bis dann irgendwann ein Ast kommt, an dem man sich festklammert und man sich dann an Land ziehen kann.
Wenn jemand merkt, dass er/sie sich verändern möchte, weil man sich im Kreis dreht und weil man merkt, dass etwas nicht funktioniert im Leben. Was kann man selbst dazu beitragen?
Ich glaube, selbst kann man dazu beitragen, dass man beginnt, Dinge aufzuschreiben, sie sichtbar zu machen. Und dass man versucht, die Situationen so zu sehen, wie sie sind und nicht wie man sie gerne hätte, wie man sie sich wünscht. Und das hat nun damit zu tun, dass man auch sagen kann: Seelische Entwicklung findet dann statt, wenn man beginnt Realitäten zu akzeptieren.
Wenn man beginnt Realitäten nicht schön zu reden, nicht anders darzustellen, dass man sie aushält. Sondern indem, dass man die Realität erkennt, mit dieser arbeitet und dann daraus eine Veränderung zulässt.