Bin ich feige, wenn ich nicht für mich selbst einstehen kann?
Laut Rico Brunner ist dies nicht so, die meisten Menschen sind überfordert in solchen Situationen. Er berichtet aus seiner Erfahrung im Umgang mit Klienten, die Angst davor haben, für sich selbst einzustehen. Seine Arbeit an verletzten und überforderten Energiefelder hat zum Ziel, diese Funktion wieder zu bilden und weiterzuentwickeln.
Erfahre mehr darüber, weshalb es sich lohnt für sich selbst einzustehen, warum dies Klarheit schafft, und was passiert, wenn man ausweicht, man sich anpasst. Das für sich selbst einstehen heisst auch mit möglichen Konsequenzen wie zum Beispiel Enttäuschung umgehen zu lernen.
Was sind jetzt mögliche Gründe, dass jemand eben zu wenig für sich einsteht?
Dass man überfordert ist, mit den Konsequenzen, man Angst hat vor den Konsequenzen. Dass man an einem Punkt ist, wo er Mühe hat, mit den Konsequenzen umzugehen, diese zu verarbeiten oder aus den Konsequenzen wieder herauszukommen.
Möchte ein Mensch, der sich so verhält, vor allem gefallen?
Also, ich glaube von außen betrachtet, sieht es immer, wenn jemand nicht für sich einsteht, vielleicht ein wenig provokativ gesagt, feige aus. Man hat das Gefühl, warum macht er das nicht? Und das gibt da wirklich verschiedene Gründe. Meine Erfahrung, auch in der Praxis, ist, dass die meisten Menschen, die nicht für sich einstehen, einfach mit der Situation so überfordert sind, dass sie beginnen auszuweichen. Dass sie so überfordert sind, dass sie Angst haben, darüber nachzudenken, dass sie beginnen auszublenden. Man kann auch sagen, für sich selbst einzustehen, löst Stress aus. Und wenn ich diesem Stress gewachsen bin, dann ist es für mich eine Leichtigkeit, hinzustehen.
Ich glaube, man kann es sehr gut auch vergleichen mit der Entwicklung, wenn man älter wird. In der Regel ist es so, dass je älter man wird, desto besser kann man für sich einstehen. Das ist eigentlich eine natürliche Entwicklung, die geht nicht bei allen linear, aber im Idealfall ist es so. Und das heißt eigentlich nichts anderes als, mit dem zunehmenden Alter sollte man idealerweise stärker werden. Und darum fällt es einem leichter, ich sage mal, mit dreißig, vierzig, hinzustehen und zu sagen: «das will ich nicht», als mit fünfzehn, mit zehn oder zwanzig Jahren. Weil man gelernt hat, mit Situationen umzugehen, weil man Situationen gewachsen ist, weil man Situationen überwunden hat.
Und so auch merkt, auch wenn es vielleicht schwierig ist, für sich selbst einzustehen und es sich lohnt, dass auch die schwierige Zeit vorüber geht und dass nicht für sich selbst einstehen, vielleicht auch ein Zustand ist, der nie mehr aufhört.
Also, das heißt, wenn ich für mich einstehe, dann beende ich auch eine Situation, wenn ich für mich einstehe, schaffe ich für mich und für andere Klarheit. Und wenn ich nicht für mich einstehe, passe ich mich an. Und aus dem heraus bleibt die Situation bestehen. Und dabei gefallen zu wollen, glaube ich, ist einfach eine andere Form von Überforderung.
Jetzt kann man umgekehrt auch sagen, dass Menschen, die das machen und für sich einstehen, dann wiederum von einigen als arrogant bezeichnet werden?
Das mag durchaus sein. Es kann auch sein, dass jemand arrogant wirkt, wenn er genügend selbstsicher ist, wenn er genügend für sich selbst einsteht. Ich glaube einfach, dass wenn man nein sagt, dass wenn man Position bezieht, dass man polarisiert. Und dann ist es immer klar, wenn ich für mich selbst einstehe, dass ich beim Gegenüber nicht immer ein gutes Gefühl auslöse und nicht immer auf Freude treffe.
Es ist auch ein spannendes Beispiel aus der Praxis: Ich habe vielen Menschen, die ich begleite, die Mühe haben für sich einzustehen auch, da ist das Thema positiver Egoismus ein Punkt, darf ich denn nein sagen? Und was spannend ist, wenn ich diese Leute begleite und es dann manchmal auch Gespräche gibt, dann fällt mir immer etwas auf. Und zwar, es sind immer die Egoisten, die einem Menschen Egoismus vorwerfen. Das ist äusserst spannend. Und ich habe da die Erfahrung gemacht, dass die Menschen, die für sich einstehen bei Menschen, die es gut mit ihnen meinen, eigentlich immer in einen Konsens kommen.
Und wenn man für sich selbst einsteht bei jemandem, der es nicht gut mit einem meint, oder ganz andere Ziele verfolgt und diese vielleicht nicht offenlegt, dass es da eigentlich dann zu Polarisierungen kommt. Und dann kann auch so die Antwort kommen, ja, du bist ja arrogant, wieso machst du das nicht? Und für sich einzustehen, ist eigentlich nichts anderes als, natürlich reflektiere ich mich, aber ich bleibe standhaft. Ich stehe zu mir, ich stehe auch hinter mir selbst.
Wie kann man sich denn abgrenzen, ohne dass es verletzend wirkt?
Ich glaube, das mit den Verletzungen sind zwei Bereiche, wo man differenzieren muss. Der erste Teil, den man vermeiden kann, ist, wie sage ich es jemandem. Und was sage ich jemandem. Kann ich es so sagen, dass ich das Gegenüber nicht verletze? Dann gibt es aber noch einen zweiten Teil, und da können Verletzungen passieren.
Wenn ich mich abgrenze und dann jemandes Erwartung nicht erfülle oder mich so verhalte, dass es für das Gegenüber nicht mehr stimmt, weil ich für mich einstehe, weil ich mich vielleicht nicht mehr anpassen will, dann ist klar, dann löse ich beim Gegenüber Enttäuschungen und Verletzungen aus. Und ich glaube, da muss man ganz stark differenzieren. Sind es Verletzungen, die ich beabsichtige, wo ich jemandem weh tun will, wo ich jemandem, ich sage mal provokativ, zerstören will oder kleinmachen will oder löse ich Verletzungen aus, die nicht vermeidbar sind, damit ich ausbrechen kann.
Und diese Verletzungen, die nicht vermeidbar sind, weil man für sich selbst einstehen muss, um halt auch dabei Menschen zu enttäuschen, die vielleicht Erwartungen haben, die für einen nicht stimmen, dann sind es aus meiner Sicht natürliche und auch gesunde Enttäuschungen, wo dann das Gegenüber lernen muss, damit umzugehen.
Vielfach hat man dann genau Angst vor einer solchen Reaktion, oder?
Genau, weil, wenn dann die Reaktion entsprechend negativ ausfällt, nach dem Motto, du hast mich enttäuscht. Ich habe von dir anderes erwartet, heißt ja nichts anderes übersetzt, wieso machst du nicht das, was ich will? Wieso bist du nicht so, wie ich dich haben will? Dann muss man für sich die Frage stellen, auch genügend Stärke entwickelt, und auch dann die ganze Situation zu hinterfragen. Dass, wenn man auch eigentlich sagen muss, okay, ich bin jetzt für mich eingestanden, ich habe es mir überlegt, ich bin sicher, dass es das Richtige ist und wenn jetzt das Gegenüber mir die Freundschaft kündigt, mir das Vertrauen entzieht, über reagiert, dann stimmt mit der Beziehung, mit der Situation etwas wirklich nicht. Und dann muss ich nicht, hinterfragen, dass ich für mich selbst eingestanden bin.
Um es noch ein wenig genauer auszuführen, ich möchte kurz auf Egoismus eingehen. Für mich gibt es zwei Formen von Egoismus, es gibt den negativen Egoismus, der grenzüberschreitend ist.
Und es gibt den positiven Egoismus, der grenzerhaltend ist. Also, wo ich für mich einstehe. Und jetzt kann man das auch sagen, für mich einzustehen, sollte immer so sein, dass man damit natürlich nicht andere unterdrückt. Also, wenn ich jetzt für mich einstehe, damit das Gegenüber das macht, was ich will, ist es sicher nicht ein gutes Einstehen, wenn ich aber für mich einstehe, damit ich das machen kann, was für mich stimmt, nicht auf Kosten von anderen Menschen, dann ist es sicher ein positives Für-sich-selber-einzustehen.
Und wie arbeitest du konkret mit jemandem, der das nicht so gut kann?
Da geht es vor allem darum, die Energiefelder zu stärken und die Gründe bei den Energiefeldern zu suchen, warum ein Mensch Angst hat vor Konsequenzen. Wo sind seine größten Überforderungen?
Wenn man Konsequenzen erlebt, wo fehlt einem die Sicherheit die Geborgenheit, der Rückhalt zu einem selbst. Man kann auch sagen, idealerweise bekommt man in der Kindheit Rückhalt von den Eltern.
Das heißt, die Eltern stehen für mich ein. Und man lernt dann, wenn man größer wird, für sich selbst einzustehen. Und wenn das nicht passiert ist, dann sind oft Energiefelder verletzt oder überfordert oder funktionieren nicht optimal. Und dann muss man diese reparieren, damit sich diese Funktion wieder bilden und auch entwickeln kann.
Gibt es abschließend Tipps von dir, wie man das im Alltag versuchen kann, besser umzusetzen, dass man für sich einsteht?
Ja, auf jeden Fall. Ich glaube, da geht es auch da wieder darum, dass man mit kleinen Schritten vorwärts geht, dass man sich versucht, sich zuerst bei unbedeutenden Dingen abzugrenzen, damit man Übung bekommt und dass man sich erst zum Schluss dann an die großen Abgrenzungsprobleme wagt.
Was mir aufgefallen ist, dass Menschen, die Mühe sich abzugrenzen, oft den Fehler bei sich selbst suchen. Und ich glaube, was man da mitnehmen kann: Meistens ist es nicht so schlimm, wie man vorher denkt.
Also, auch sich selbst mehr zutrauen?
Sich mehr zutrauen und auch, lernen auszuhalten, ohne sich zu überfordern. Dass Situationen manchmal auch durch das Abgrenzen verändert gelöst und dann auch verbessert werden können. Und ich glaube, es ist wichtig, auch da mitzunehmen, ein Mensch, der einem gut gesinnt ist, wenn man sich anständig abgrenzt, wird in der Regel nie wirklich enttäuscht sein, weil er verstehen wird, warum dass man sich abgrenzt.
Und ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt, dass man vom Gegenüber, wenn man sich selbst abgrenzt, auch ein gewisses Entgegenkommen erwarten und auch verlangen darf, damit man miteinander ein Konsens findet, der vielleicht für beide stimmt.